Trotz Schwerbehinderung: Selbstbestimmt ins Berufsleben (mittelhessen.de, 25.02.2021)
Erschienen in der Wetzlarer Neuen Zeitung am 26.02.2021
Sie helfen, Menschen mit Schwerbehinderung im Arbeitsmarkt zu integrieren: Laura Ruppert (v.l), Fachkoordinatorin Christiane Knipp und Helga Hagel. Foto: Timo König |
WETZLAR - Wo arbeitest du? Eine Frage, die in unserem Wirtschaftssystem eine große Bedeutung einnimmt. Schließlich bestimmt der eigene Beruf einen Großteil unseres gesamten Lebens. Christiane Knipp und das Team vom Integrationsfachdienst Gießen/Wetzlar (IFD) setzt sichfür Menschen mit Schwerbehinderung ein, um sie bei der Suche nach einem passenden Job zu unterstützen und zugleich das Selbstwertgefühl der Betroffenen zu steigern. Seit Februar 2020 bezieht Knipp ihr Büro in der Bahnhofstraße in Wetzlar. "Der Lahn-Dill-Kreis hat großes Beratungspotenzial", erklärt die Diplom-Pädagogin, die gemeinsam mit ihren Kolleginnen Helga Hagel und Laura Ruppert vom Standort Gießen nach Wetzlar gewechselt ist und dort ihren Klienten kostenfrei und unverbindlich bei Beratungsgesprächen zur Verfügung steht. Übliche Auftraggeber und Partner sind das Integrationsamt, das Jobcenter oder die Agentur für Arbeit. Einige melden sich aber auch auf Eigeninitiative.
Gesetzlich ist jeder Arbeitgeber dazu verpflichtet, fünf Prozent der Arbeitsplätze für Menschen mit Schwerbehinderung zur Verfügung zu stellen. Eine Quote, die ab einer Beschäftigtenzahl von 20 greift. Wird die Quote nicht erfüllt, müssen Betriebe eine sogenannte Ausgleichsabgabe leisten. Gelder, von denen die zwölf Berater, Begleiter und Vermittler des IFD bezahlt werden. "Würden alle Unternehmen die Quote erfüllen, wären wir in der Tat arbeitslos", scherzt Christiane Knipp, die für den IFD als Fachkoordinatorin tätig ist.
FÖRDERVEREIN FÜR SEELISCHE GESUNDHEIT
Träger des Integrationsfachdienstes Gießen/Wetzlar ist der Förderverein für seelische Gesundheit, der seit 1974 psychisch kranke und behinderte Menschen in den Bereichen Wohnen, Selbstversorgung, Freizeitgestaltung sowie Arbeit und Berufsleben unterstützt.Die Zentrale des Vereins und seinen einzelnen Abteilungen ist in der Ludwigstraße in Gießen.
Die Eingliederung ins Berufsleben von Menschen mit Schwerbehinderung ist die Tätigkeit, die sich Knipp und ihr Team auf die Fahnenstange geschrieben und zugleichauch zur Herzensangelegenheit gemacht haben. "Es geht prinzipiell darum, einen leidensfähigen Arbeitsplatz für unsere Klienten zu finden. Neben den persönlichen Interessen soll auch berücksichtigt werden, dass am Arbeitsplatz nicht die Gefahr einer Überforderung besteht", erklärt Knipp. "Im Optimalfall finden wir einen kleinen, familiären Betrieb. Die Erfahrung zeigt, dass die Eingliederung in solchen Betrieben am besten funktioniert", ergänzt Helga Hagel, die auf die Vermittlung spezialisiert ist. Üblich ist es, dass Klienten mindestens ein halbes Jahr lang betreut werden. Eine äußerst individuelle und regelmäßige Beratung sei dringend notwendig, um nicht nur die Entwicklungen jedes Einzelnen sorgfältig zu verfolgen, sondern auch eine Art "Fähigkeitsprofil" zu erstellen, das bei der zukünftigen Suche nach einem passenden Betrieb hilfreich sein kann.
Um sicherzustellen, dass die Integration in einen Betrieb gut funktioniert, steht der IFD auch im regelmäßigen Austausch mit den jeweiligen Arbeitgebern. Eindrücke werden geschildert und bei Fragen der Integration und seelischer Gesundheit in der Arbeitswelt im Allgemeinen steht der IFD in beratender Funktion zur Seite. "Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung können teilweise deutlich auseinander liegen", sagt Christiane Knipp in Bezug auf ihre Klienten.
Ein probates Mittel, um die Eignung eines Menschen mit Schwerbehinderung herauszufinden, ist ein Orientierungspraktikum. So läuft unter anderem zusammen mit der Wetzlarer Fröbelschule eine Kooperation, die die Suche nach Praktikumsplätzen für Schüler erleichtern soll. Ein Ansatz, der in Zeiten von Schulschließungen und Homeoffice nur schwer umsetzbar ist. Die Beratungsgespräche mit den Klienten finden aktuell hauptsächlich über Telefon oder per Video statt. "Es ist sicher kein Dauerzustand, aber vor allem die Möglichkeit über Videotelefonie ist doch eine sehr gute Zwischenlösung", berichtet Beraterin Laura Ruppert ihre Erfahrung.
Alle Menschen mit Schwerbehinderung sowie Betriebe aus Wetzlar und dem südlichen Lahn-Dill-Kreis können das Angebot in Anspruch nehmen. Um den Eingliederungsprozess in Zukunft auch in der Zeit nach Corona noch weiter zu optimieren, will der IFD sein Netzwerk und die Bekanntheit in der Region rund um Wetzlar vergrößern. Und auch die eigentlich vor rund einem Jahr geplante Einweihungsfeier des neuen Büros in der Wetzlarer Bahnhofstraße soll dann gebührend nachgeholt werden.
Erschienen am Donnerstag, 25.02.2021 bei
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