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Presse

Wenn Arbeit Sicherheit gibt (Gießener Allgemeine, 10.03.2020)

Gießener Allgemeine, 10.03.2020
von Kays Al-Khanak
Foto: Oliver Schepp

Seit vier Jahren arbeitet Niko Henning bei einem IT-Dienstleister in Gießen. Dass er dort ein wichtiger Teil des Teams ist, ist nicht selbstverständlich. Denn der 33 Jahre alte Mann ist Autist. Sein Weg ist eine Erfolgsgeschichte - mit vielen Beteiligten.

"Niko Henning ist blitzgescheit", sagt sein Chef Guy Simonow vom Gießener IT-Dienstleister Netzlaboranten. Andere beschreiben den 33 Jahre alten Mann als charismatisch und ideenreich. Im Team könne sein Angestellter eine richtige "Granate" sein, ergänzt Simonow. Gleichzeitig sagt Henning: "Bei sozialen Themen ist bei mir ganz schnell die Batterie leer." Auch falle es ihm schwer, Prioritäten einzuordnen. Sein Perfektionismus und die damit einhergehende Selbstkritik mache es ihm nicht einfacher im Alltag. Henning ist Autist. Dass er trotz dieser tiefgreifenden Entwicklungsstörung seit mittlerweile vier Jahren bei dem IT-Dienstleister an der Ostanlage arbeitet, hat viel mit seinem Chef zu tun - und mit den Akteuren, die ihren Beitrag zu dieser erfolgreichen Integration geleistet haben.

FSG Giessen Foto von Oliver ScheppZiel: Teilhabe ermöglichen

Henning hatte sein Informatikstudium an der Technischen Hochschule Mittelhessen abgebrochen und sich beim Jobcenter gemeldet. Von seiner Betreuerin, die ihn zu jener Zeit regelmäßig zu Hause besuchte, erfuhr er von einem Angebot mit dem Namen Unterstützte Beschäftigung (UB). Es ist eine Art Langzeitpraktikum, erklärt Stefan Leyerer, Reha-Abteilungsleiter der Arbeitsagentur, die diese Maßnahme in der Regel zwei Jahre lang fördert. Ziel sei es, Menschen mit Behinderungen eine Teilhabe an der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Träger ist die Bietergemeinschaft des Fördervereins für seelische Gesundheit und der Lebenshilfe. UB-Leiter Martin Schmidt erzählt, Henning sei eigentlich gar nicht die Zielgruppe des Programms. "Das sind eher Menschen, die nicht lesen und schreiben können." Für die meisten der dort unterstützten Teilnehmer wären Langzeitarbeitslosigkeit oder eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung die einzigen Alternativen. Der 33-Jährige hatte jedoch bereits einige Programme durchlaufen - und nicht den richtigen Beruf für sich gefunden.

Es war Zufall, dass ein UB-Betreuer Nachbar des Geschäftsführers der Netzlaboranten ist und ihm Henning empfahl. Für Simonow ist das Thema Autismus nicht neu, arbeitet bei ihm bereits ein Mitarbeiter mit dem Asperger-Syndrom. Nach dem Gespräch mit Henning sei er seinem Bauchgefühl gefolgt und habe ihn im Unternehmen als neunten Mitarbeiter angestellt. Henning sagt: "Ich hätte mich schon dumm anstellen müssen, um nicht genommen zu werden."

Zwei Jahre lang war Henning über die UB in dem Unternehmen beschäftigt. In dieser Zeit arbeitete er vier Tage in der Woche täglich sechs Stunden im Betrieb, an einem Tag ging es zum Gesprächskreis des Projektträgers. Nicht immer lief anfangs alles glatt, erzählt Simonow. Dass sich ein Arbeitnehmer und ein Arbeitgeber erst finden müssen, ist so weit nicht ungewöhnlich. Nur ist besonderes Verständnis und Fingerspitzengefühl des Arbeitgebers und der anderen Mitarbeiter gefragt, wenn der Kollege Autist ist.

Ausdauer als Erfolgsfaktor

Darauf weist auch UB-Leiter Schmidt hin. "Es ist eine tolle Leistung des Unternehmens, weil nicht jeder Arbeitgeber so eine Situation durchgehalten hätte." Der größte Erfolgsfaktor für eine gelungene Integration sei die Ausdauer des Arbeitgebers und des Teilnehmers. Christiane Knipp vom Förderverein für seelische Gesundheit ergänzt: "Herr Simonow hat Herrn Henning geradezu adoptiert. Der Kontakt hört nicht mit dem Feierabend auf." Dieses Verhältnis gebe dem 33 Jahre alten Mann Sicherheit. Selbst wenn er ein Tief habe, wisse er, dass er aufgefangen werde.

In den vier Jahren, in denen Henning bei den Netzlaboranten arbeitet, habe seine Selbstständigkeit stetig zugenommen, sagt Schmidt. Mittlerweile nutze er das betreute Wohnen nicht mehr, erzählt Henning. Er habe einfach keine Zeit mehr dazu, weil er "so viele soziale Termine", Freunde und eine Partnerin habe. Generell fühle er sich sehr gut, sagt der 33-Jährige. So gut, dass er mittlerweile eine "zukunftsorientierte Verzweiflung" empfinde.

Link zum Artikel in der Gießener Allgemeinen

Arbeit als Anker im Alltag (Wetterauer Zeitung vom 03.01.2019)

cafe

Gemütlich in der Stadt einen Kaffee trinken: Auch solche gesellschaftliche Teilhabe wird leichter möglich dank Berufstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt. (Fotos: Schepp/kw)

Arbeit

Gibt es ein ideales Maß an Arbeit? Menschen mit psychischen Störungen sind dafür besonders sensibel - vor allem, wenn ihre Grenzen überschritten werden. Das ist erhellend für alle.

Warum erst dann neue Bürostühle anschaffen, wenn die ersten Mitarbeiter wegen Rückenleiden ausfallen?« Mit diesem Bild umschreibt Andreas Büscher, dass ein für psychisch Kranke günstiges Arbeitsumfeld der gesamten Belegschaft zugutekommt. Seit über 25 Jahren vermittelt Büscher mit seinem Team vom Integrationsfachdienst Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt und berät alle Seiten – Arbeitnehmer, Betriebe und Kostenträger. Seine Erfahrung bestätigt im GAZ-Gespräch eine Klientin: Wenn die Bedingungen stimmen, ist Berufstätigkeit ein wichtiger Anker im Alltag.

»Man fühlt sich nicht gebraucht.« Die 28-Jährige erinnert sich ungern an die Phase der Arbeitslosigkeit in ihrem Leben. Als sie 17 war, brach bei ihr eine Psychose aus. Sie schloss eine Ausbildung zur Bürokauffrau ab und arbeitet heute in einer Bäckereifiliale mit Cafébetrieb. »Erst sollte ich nur in der Küche eingesetzt werden, inzwischen bin ich teilweise auch im Verkauf«, erzählt sie stolz.

Das richtige Maß finden

Wichtig ist ihr, dass sie in einem »normalen« Betrieb arbeiten kann statt in einer geschützten Werkstatt: »Nur unter kranken Menschen würde ich mich nicht so gut fühlen.« Das Gehalt bedeutet Bestätigung und ermöglicht ihr Selbstständigkeit.

Dass sie sich gut vorstellen kann, langfristig in ihrer Firma zu bleiben, habe sie unter anderem den netten Kollegen und den regelmäßigen Beratungsgesprächen beim IFD zu verdanken, betont die junge Frau. Vor allem habe sie für sich das richtige Maß an Belastung gefunden. »Es gibt Tage, an denen viel los ist, aber dazwischen ruhigere Zeiten. Die brauche ich auch. Ich arbeite fünf Tage die Woche je fünfeinhalb Stunden. Eine Weile waren es sechseinhalb, das war mir zu viel.«

In unserem Wirtschaftssystem
ist eine der wichtigsten Fragen:
Wo arbeitest du

Andreas Büscher, IFD

30 Wochenstunden: Gilt diese Grenze fürs Wohlbefinden allgemein? Büscher winkt ab: An derart einfache Rezepte glaubt er nicht. Aber er kann durchaus Warnzeichen aufzählen für Stress, der krank machen kann. Zum Beispiel: »Wenn Arbeit alles ist. Man kann nichts erzählen auf die Frage, was man sonst noch macht.« Mitunter meldet sich der Körper mit Tinnitus, Schlafstörungen, Verdauungsproblemen oder Kopfschmerzen, und dem Menschen ist zunächst gar nicht bewusst, dass Überlastung die Ursache ist. Vor allem Männern fällt es oft schwer, diese tabuisierte Tatsache wahrzunehmen.

Vorbeugen kann sowohl der Einzelne als auch die Firma mit dem symbolischen rückenfreundlichen Bürostuhl, also dem Betriebsklima. Büscher nennt Muster, die zu Frust führen können: Wenig kooperative Kollegen, Arbeitsverdichtung, Zeitdruck, Über- oder Unterforderung. Stressempfinden hänge stark davon ab, ob sich der Betreffende in seiner Freiheit eingeschränkt sieht. Ungünstig könnten sich Einstellungen auswirken wie Perfektionsstreben – »ich gebe alles« –, Versagensängste oder geringe innere Distanz zum Beruf. »Meine Kollegen sind wie eine Familie für mich« – bei so einem Satz schrillen Büschers Alarmglocken.

Mögliche Folge ist ein Burn-out. »Unter diesem Decknamen können echte Depressionen auftreten, aber auch bloße Befindlichkeitsstörungen, die keiner Therapie bedürfen«, betont der Experte. »Schwere psychische Erkrankungen haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht zugenommen.«

Appell an Führungskräfte

Für alle empfehlenswert seien ausreichend Freizeit und soziale Kontakte außerhalb des Jobs. »Darauf müssen auch Führungskräfte achten«, gerade mit Blick auf das steigende Rentenalter. Anerkennung sei ebenso wichtig wie ein verlässlicher Ansprechpartner.

Dank Fachkräftemangel richten Unternehmen zunehmend ihr Augenmerk auf das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter und öffnen sich für Menschen, die besondere Unterstützung benötigen. Beispielsweise haben Absolventen von Förderschulen bessere Chancen auf eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt, freut sich Büscher. Er hat viele Menschen ohne Beschäftigung gesehen, die sich unglücklich in der Stadt herumtreiben, dem Alkohol oder Glücksspiel verfallen und sich mit der Frage quälen: Wofür bin ich auf der Welt?

»In unserem Wirtschaftssystem ist eine der wichtigsten Fragen: Wo arbeitest du?« Berufstätigkeit bedeute Tagesstruktur, Selbstwertgefühl, soziale Kontakte und dank Einkommen die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Psychisch Kranke könnten manchmal ihre Medikamentendosis reduzieren oder ganz darauf verzichten, weil sie Arbeit gefunden haben. Die 28-Jährige kann diese heilsame Wirkung nur bestätigen. »Meine Stelle bedeutet mir sehr viel. Ich gehe gern zur Arbeit und habe Spaß daran.«

Zusatzinfo

Hilfe durch Vermittlung in Arbeit

Der Integrationsfachdienst (IFD) und die Unterstützte Beschäftigung sind neben dem Betreuten Wohnen die Hauptstandbeine des Fördervereins für seelische Gesundheit. In den 25 Jahren seines Bestehens ist der Verein rasant gewachsen. Derzeit beraten und betreuen insgesamt 25 Fachkräfte etwa 200 Menschen aus Stadt und Landkreis Gießen. Die Klienten haben beispielsweise Psychosen, Schizophrenie, Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen, aber auch Lern-, Körper- oder Sinnesbehinderungen. Das Credo des Vereins: Menschen mit psychischer Behinderung sollen nicht in »Ghettos«, sondern mitten in der Bevölkerung wohnen und arbeiten. Andreas Büscher, gelernter Krankenpfleger und studierter Sozialarbeiter, war lange Geschäftsführer des Fördervereins. Mit Blick auf den eigenen Ruhestand ist der 63-Jährige 2018 in die zweite Reihe zurückgetreten und widmet sich nun ganz den Aufgaben als Fachdienstleiter und Berater im IFD.

Von Karen Werner

607 670 Euro für Einstieg in Arbeitsmarkt (Gießener Anzeiger, 08.08.2018)

PlanBAnzeiger

Übergabe der Förderbescheide für bewährte und neue Projekte (v.l.) Manfred Felske-Zech (LK-Gießen), Landrätin Anita Schneider, Mirjam Aasmann (Jugendwerkstatt), Wolfgang Haasler (Caritas), Horst Mathiowetz (Förder-verein für seelische Gesundheit), Sebastian Haack (ZAUG gGmbH) udn Uwe Happel (LK-Gießen) 

(Foto: Landkreis Gießen)

KREIS GIESSEN

"Wir führen unsere vier bewährten Projekte fort, die langzeitarbeitslose Menschen stabilisieren und wieder an den Arbeitsmarkt heranführen sollen", sagte Landrätin Anita Schneider und lobte die Arbeit von vier Institutionen im Landkreis Gießen, als sie Zuwendungsbescheide in einer Gesamthöhe von 607 670 Euro übergab.

Die Integration in den ersten Arbeitsmarkt sei das wichtigste Ziel für das Jobcenter, dessen Träger der Landkreis und die Arbeitsagentur sind. Grundsätzliches Ziel sei es, die Teilnehmer zu stabilisieren, ihre Hemmnisse, die eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt erschweren, abzubauen und Perspektiven auf einen Arbeitsplatz zu erarbeiten. Ebenso brauche es weiterhin gute Angebote, um benachteiligte Jugendliche in Ausbildung zu vermitteln beziehungsweise ihnen eine integrative Ausbildung bereitzustellen. "Durch den geschickten Einsatz der Gelder gelingt es uns, das Förderniveau konstant zu halten. Denn die Kontinuität ist entscheidend dafür, dass sie wirken", erklärte die Landrätin laut einer Pressemitteilung.

Die 2012 begonnenen Projekte werden vom Sozialministerium und dem Landkreis gefördert. Die Zaug gGmbH richtet sich mit ihrem Projekt "ProAktiv" in der Hauptsache an Bedarfsgemeinschaften mit minderjährigen Kindern, vorwiegend Alleinerziehende. Der Caritasverband führt mit "Wegbereiter" an den Arbeitsmarkt heran. Dabei kann auch auf bisher versteckte Problemlagen eingegangen werden. Einen ähnlichen Weg verfolgt die Jugendwerkstatt mit "Auffordern statt aufgeben", die ihre vielfältigen Fachbereiche für praxisnahes Arbeitstraining nutzt. Ein ebenfalls erfolgreiches Projekt setzt der Förderverein für seelische Gesundheit mit seinem "Plan B" um, das sich vorwiegend Personen mit psychischen Beeinträchtigungen widmet.

Gefördert werden außerdem zwei Projekte, die Geflüchteten einen Einstieg in Arbeit oder Ausbildung ermöglichen sollen. "Diese Projekte sind ein zentraler Baustein des Integrationsprozesses", betonte Schneider. Sie bieten berufliche Orientierung und verbessern die berufsbezogenen Deutschkenntnisse. In der Probierwerkstatt der Jugendwerkstatt Gießen können Geflüchtete Berufsbilder aus verschiedenen Gewerken erproben und dabei die für den Einstieg in eine Ausbildung notwendigen fachlichen, persönlichen und sozialen Kompetenzen trainieren.

 

Neu initiiert wurde ein Projekt zum Aufbau von mindestens vier Integrations- und Kompetenzzentren im Landkreis durch die Zaug gGmbH. Dieses schließt an ein bereits laufendes Projekt der Gemeinwesenarbeit an. Know-how, Strukturen und Netzwerke werden genutzt und ergänzt. Ziel ist es, Geflüchteten durch gemeinnützige Projekte in den Kommunen handwerkliche Fähigkeiten zu vermitteln und ihr Sprachniveau zu verbessern. Gleichzeitig werde so die soziale Integration gefördert. "Dafür wollen wir zugleich auch das Ehrenamt professionalisieren und unterstützen", erklärt Landrätin Schneider. So sollen im Landkreis flächendeckend Beratungskompetenzen im Ehrenamtsbereich zielgerichtet verbessert werden, um dadurch eine bessere Vernetzung mit den Angeboten und Fördermöglichkeiten der Arbeitsverwaltung zu ermöglichen.

Abschließend bedankte sich Anita Schneider bei den Projektträgern und bei Uwe Happel, der diese für den Landkreis koordiniert.

Kein »Ghetto« für psychisch Kranke (Gießener Allgemeine Zeitung, 31.07.2018)

Geschftsfhrerwechsel

Horst Mathiowetz ist neuer Geschäftsführer des Fördervereins für seelische Gesundheit. Seinem Vorgänger Andreas Büscher danken Wolfgang Jende und Gert Mehles (v. l.) für 25 erfolgreiche Jahre. (Foto: Schepp)

GIESSEN

Ja, Arbeit kann krank machen, vor allem wenn der Leistungsdruck ständig wächst. Aber sie ist auch ein wichtiger Anker, gerade für Menschen mit psychischer Behinderung. Manchen gelingt es dank dieser Stabilisierung, ihren Alltag besser zu bewältigen oder gar auf Medikamente zu verzichten. 25 Jahre lang hat Andreas Büscher Entscheidendes dazu beigetragen, dass zahlreiche Patienten in und um Gießen in der Berufswelt Fuß fassten. Jetzt tritt der Geschäftsführer des Fördervereins für seelische Gesundheit in die zweite Reihe zurück.

»Wenn ein Geschäftsführer plötzlich weg ist, kann ein Vakuum entstehen«, erklärt der 61-Jährige im GAZ-Gespräch. Nun könne er seinem Nachfolger und bisherigen Stellvertreter Horst Mathiowetz (56) bei Bedarf zur Seite stehen. Büscher bleibt tätig beim Integrationsfachdienst (IFD), der seelisch, neurologisch und Hörbehinderte in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt und alle Seiten berät – Arbeitnehmer, Betriebe und Kostenträger.

Den IFD hat Büscher von Anfang an mit aufgebaut. Dabei wollte der gelernte Krankenpfleger und studierte Sozialarbeiter eine solche Tätigkeit eigentlich meiden, als er 1991 aus privaten Gründen von Dortmund nach Gießen zog: So viele Vorschriften, die sich ständig ändern! Beim Förderverein für seelische Gesundheit hatte er sich als Mitarbeiter im damaligen Hauptstandbein Betreutes Wohnen beworben. Doch kurzfristig wurde er im »Psychosozialen Dienst« – heute Integrationsfachdienst – eingesetzt und übernahm schon zwei Jahre später die Geschäftsführung des Vereins. Heute sieht er sein Arbeitsfeld als »ideale Schnittstelle«.

In den 25 Jahren sei der Verein rasant gewachsen, unterstreichen der Vorsitzende Gert Mehles und Schriftführer Wolfgang Jende. Mit fünf Mitarbeitern begann Büschers Tätigkeit. Aktuell beraten und betreuen insgesamt 25 Fachkräfte im Betreuten Wohnen, im Integrationsfachdienst, in der Unterstützten Beschäftigung und weiteren Projekten laufend etwa 200 Menschen aus Stadt und Landkreis Gießen. Sie haben beispielsweise Psychosen, Schizophrenie, Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen.

Büscher habe die stetige Weiterentwicklung und die starke Vernetzung wesentlich mit vorangetrieben, unterstreichen die Vorstandsvertreter. So wurde 1996 die Bürogemeinschaft Integrationsfachdienst mit der Lebenshilfe und der Profile gGmbH gegründet, 1997 der Gemeindepsychiatrische Verbund. Der passionierte Läufer und Radler habe »kreative, kritische und manchmal ungewöhnliche Ideen« durchgesetzt und bei der Auswahl des Personals eine glückliche Hand bewiesen. Sehr gute Kontakte seien entstanden etwa zum Landeswohlfahrtsverband, der Agentur für Arbeit, zum Jobcenter und den Rentenversicherungsträgern.

Gutes Betriebsklima nutzt allen

Die wesentlichen Leitlinien habe Büscher mit geprägt: Kooperation, Regionalität, ambulant vor stationär, Prävention vor Rente, Nachhaltigkeit. Zusammengefasst: Menschen mit psychischer Behinderung sollen möglichst weder in »Ghettos« untergebracht noch im Betrieb zu stark »bemuttert« werden, sondern mitten in der Bevölkerung wohnen und arbeiten. Weil jeder Fall unterschiedlich sei, müssten die Lösungen individuell sein. Der Verein sei »nicht auf jeden Zug aufgesprungen« und habe insbesondere auf Projekte ohne langfristigen Nutzen verzichtet.

Der Bedarf an Hilfe für psychisch Kranke sei in Gießen mit seinen einschlägigen Kliniken besonders groß, erläutern der Psychologe Mehles und der Arzt Jende. Das Angebot sei zugleich ungewöhnlich breit. Vieles sei Horst-Eberhard Richter zu verdanken. Zahlreiche Initiativen des wegweisenden Psychoanalytikers wirkten bis heute.

Büscher bringt sein Fachwissen in zahlreiche Gremien ein und hält seit zwölf Jahren Vorträge für Unternehmen und Behörden. Darin versucht er unter anderem zu vermitteln, dass ein für psychisch Kranke günstiges Arbeitsumfeld der gesamten Belegschaft zugutekommt. »Warum erst neue Stühle anschaffen, wenn das Rückenleiden entstanden ist?« Mit einem guten Betriebsklima könne man auch Burnout und anderen Überlastungserscheinungen vorbeugen.

Der neue Geschäftsführer Horst Mathiowetz arbeitet bereits seit 1994 beim Verein und leitet den Bereich Betreutes Wohnen

KREIS GIESSEN

Unabhängige Hilfe

Stellen Sie sich vor, Sie sind psychisch krank und in Behandlung, haben aber ein Problem mit der Art der Therapie. Bei wem sprechen Sie das an? Ihrem Arzt, dem Leiter der Einrichtung, in der Sie vielleicht untergebracht sind? Ab sofort gibt es im Landkreis Gießen für solche und andere Schwierigkeiten im Bereich Psychiatrie eine unabhängige Beschwerdestelle. Wer dahinter steht, wie sie funktioniert und an wen sich das Angebot richtet, das war gestern Thema einer Pressekonferenz im Kreishaus.

Hinter der neuen Anlaufstelle steht eine neunköpfige Gruppe, die sich aus Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen sowie Fachkräften der psychiatrischen Versorgung zusammensetzt. An sie können sich ab sofort Menschen wenden, die im Landkreis Schwierigkeiten mit Ärzten, Therapeuten, Kliniken, Wohnheimen, Tagesstätten, Beratungsstellen, Pflegediensten, gesetzlicher Betreuung oder anderen Dingen haben. Die Mitglieder nehmen die Beschwerden entgegen, gehen ihnen nach und wirken auf eine Klärung hin.

Allerdings nicht im Rahmen einer Sprechstunde. »Das ist für uns erst die nächste Stufe«, sagt Marco Auernigg, Psychiatriekoordinator beim Landkreis Gießen und Mitglied des Teams. Wer sich beschweren will, kann dies telefonisch oder schriftlich (per E-Mail oder Brief) tun. Die Informationen werden zunächst gesammelt, Entscheidungen zum weiteren Vorgehen im großen Plenum gefällt, das einmal im Monat tagt.

Seit vielen Jahren gibt es laut Gesundheitsdezernent Hans-Peter Stock die Forderung von Betroffenen, eine unabhängige Beschwerdestelle zu schaffen, nicht angedockt an eine Klinik oder andere Einrichtung. Jetzt hat der Landkreis den Anstoß dazu gegeben. Er ist allerdings nicht Träger, sondern stellt lediglich die Infrastruktur – Büro, Telefon, etc. – zur Verfügung. Aufgegriffen wurde das Thema bei der Behörde vor rund 18 Monaten in der AG Psychiatrie, einer Fachgruppe im Beirat von Menschen mit Behinderung. Hier wurde die Vorarbeit geleistet, das Angebot konzipiert und mit viel Kompetenz ausgestattet.

Ziel ist es allerdings nicht nur, Menschen mit Problemen im Bereich Psychiatrie zu helfen. »Wir haben auch den Anspruch, Strukturen zu verbessern«, sagt Auernigg. Soll heißen: Anhand der Informationen über mögliche Missstände will man auf bestehende Mängel hinweisen, Verbesserungsvorschläge machen und Veränderungen erreichen. Wert legt die Gruppe darauf, dass sie die Anliegen der Beschwerdeführer streng vertraulich, neutral und unabhängig bearbeitet, außerdem kostenfrei und möglichst schnell. »Was wir nicht tun? Wir bearbeiten keine anonymen Beschwerden, wir bieten keine Rechtsberatung, wir fällen keine Urteile«, sagt Auernigg.

Woher kommt ihre Motivation? Beschwerden landen häufig nicht dort, wo sie hingehören, sondern bei Dritten, sagt Horst Mathiowetz vom Förderverein für seelische Gesundheit. Deshalb muss es in seinen Augen »einen Ort geben, der unabhängig ist«. Das bestätigen andere Mitglieder der Gruppe. Viele Menschen hätten Hemmungen, Schwierigkeiten zu thematisieren, trauten sich häufig nicht, gegenüber Ärzten darüber zu sprechen, was ihnen missfällt, weiß Elisabeth Weißler-Mahlke von der Angehörigengruppe Mittelhessen. Den Grund dafür nennt der Psychiatrie-Erfahrene Manfred Haas: eine »enorme Hemmschwelle« bei Betroffenen.

Welcher Arbeitsumfang auf die Gruppe, die übrigens ehrenamtlich agiert, zukommen wird, wissen die Mitglieder nicht. Interessierte, die ein ernst gemeintes Interesse an der Mitarbeit haben, sind willkommen.

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